1.1 Der vergessliche Professor; Beitrag von Rebecca Stein

Näheres zur Autorin Rebecca Stein siehe unter Personen.

 

Systemfoto, vergesslicher Professor

Um es gleich vorweg zu nehmen, Namen tatsächlicher Personen wurden mit Absicht geändert, um den heutigen Nachfahren des Professors sowie seinem Ruf die Gebührlichkeit und Ruhe zu gönnen, die sie verdient haben. Mein Bericht ist mehr als Sachgeschichte zu werten. Keinesfalls soll er als Negativkritik an dem Professor aufgefasst werden, der stets ein ausgezeichneter Lehrmeister und ein Vorbild war.

 

 

Der vergessliche Professor.
Bericht von Rebecca Stein.

Der Bericht versetzt uns zurück in das Jahr 1981. Die Namen der damaligen
Personen wurden geändert, ebenso wurden bestimmte örtliche Beschreibungen
so weit verfremdet, dass aus heutiger Sicht sich daraus nicht mehr so ohne
weiteres die konkreten Personen und Handlungsorte von damals ableiten lassen.


Ich befand mich gerade mitten in meiner Ausbildung zur MTA
(Medizintechnischen Assistentin). Vor allem standen lange Vorträge von
Professor Madey auf dem Programm, der uns auch im Trainingslabor mit
Stunden begleitete. Professor Madey hätte eigentlich zu dieser Zeit schon im
wohlverdienten Ruhestand leben können, anstatt sich hier weiter mit dem
Nachwuchs bestimmter Berufssparten herumzuschlagen. Er war schon weit über
70 Jahre, ich glaube irgendwann wurde unter seinen Kollegen im kleinen Kreis
sein 74. Geburtstag gefeiert. Die Weitergabe seiner wissenschaftlichen
Erkenntnisse war ihm immer ein besonderes Anliegen. Er sagte des öfteren
Sätze wie: "Wenn ich mein sauer erarbeitetes Wissen nicht weitergeben kann,
dann war meine ganze Lebensarbeit umsonst, da sie mit meinem Dahinscheiden
auch dahinscheidet."
Ab einem bestimmten Zeitpunkt entwickelten sich bei Professor Madey jedoch
rasend schnell Symptome nachlassender Gedächtnisleistung und gewisser
Eigenheiten, wie man sie altersbedingt von vielen alten Menschen her kennt.
Nur dass sich diese Erscheinungen bei ihm binnen weniger Monate rasend
schnell ausprägten. Da er den Lehrbetrieb trotzdem weiter führte, bekamen wir
das alles hautnah mit. Allerdings beschäftigte mich dabei alsbald die Frage: Gibt
es eine selektive Vergesslichkeit?
Der Professor vergaß wirklich zuweilen so ziemlich alles, außer seinen
fachlichen Erkenntnissen, die blieben ganz offensichtlich vom Schwund seiner
geistigen Fähigkeiten völlig verschont. Dabei war es in aller Regel jedoch so,
dass auch Dinge, die er offensichtlich im aktuellen Moment vergessen hatte,
plötzlich, oft nach Tagen, wieder präsent waren. Er war verheiratet mit einer
deutlich jüngeren Frau, die ihn ab und zu mit ihrem Wagen morgens, meist
gegen 9 Uhr zu unserem Ausbildungszentrum brachte und dann nachmittags
gegen 14 Uhr, dort wieder abholte. Seine Frau war schätzungsweise 30 Jahre alt
und stammte, wie er selbst mal erzählte, aus Norwegen, wo er einige Jahre zuvor
an einem Institut wissenschaftlich tätig war.
Wie jeder Mensch, verfügte auch Professor Madey über bestimmte Eigenheiten,
Gewohnheiten oder wie man es auch nennt, Marotten. So packte er jeden
morgen, nachdem er den Vortragsraum oder das Labor betreten hatte, eine 100 g
- Tafel immer der gleichen Sorte Zartbitter - Schokolade eines namhaften
Herstellers aus seiner großen, strapazierten alten braunen Leder-Aktentasche
aus, breitete die Tafel in einer regelrechten Zeremonie auf seinem Pult aus,
trennte mit einem Skalpell an den vorgegebenen Stellen eine Rippe der
Schokolade ab, zerteilte diese dann wieder in drei gleich große Teile, ganz
präzise, als hinge davon der Fortbestand der Welt ab, und dann naschte er so
zwischendurch während seiner Vorträge sporadisch von diesen fein zerteilten
Stückchen. In dem Vortragsraum befand sich seitlich hinter ihm eine
ausklappbare Schultafel, von der er bei seinen Erklärungen gerne Gebrauch
machte. Jedes mal, wenn er die Kreide wieder aus der Hand legte, hastete er
zum Waschbecken und wusch sich intensiv die Hände, gerade so, als ob Kreide
ein gefährlicher Stoff wäre. Danach gefragt begründete er das einfach damit,
dass er gleich wieder ein Stück Schokolade essen würde und er sich daher sofort
nach dem Anfassen von Dingen die Hände wasche, damit die Schokolade nicht
verunreinigt würde. Manche werden sich nun fragen, warum ich gerade solche
scheinbaren Belanglosigkeiten hier erwähne, doch gerade an denen wird man im
weiteren Verlauf sehen, wie die Vergesslichkeit des Professors seinen Alltag
zunehmend veränderte.
Eines Tages veränderten sich jedoch seine Eigenheiten. Ich erinnere mich noch
genau, so als wäre es erst gestern gewesen, es war ein Montag. Freitags zuvor
war noch alles wie immer. An diesem Montag begann sein Vortrag erst um 11
Uhr. Pünktlich wie immer kam er in den Vortragsraum. Er stellte sich vorne an
sein Pult, doch anstelle wie gewohnt seine Schokolade aus der Tasche zu holen,
stellte er gleich die ganze Tasche auf das Pult und lies sie dort stehen. Das war
für ihn so untypisch, dass es jedem, auch dem Unaufmerksamsten, gleich
auffiel. Er schaute zur Decke, machte einen Ansatz etwas zu sagen, brachte aber
keinen Ton heraus, außer einem Wortfetzen. Dann zog er den Stuhl, der hinter
dem Pult stand, zu sich heran, setzte sich auf den Stuhl und betrachtete mehrere
Minuten lang wortlos und starr seine noch immer auf dem Pult stehende alte
Aktentasche. Mehrmals schnäuzte er sich, bohrte sich in der Nase, was er sonst
nie tat, eine Kollegin von mir rief dann das Wort Schokolade in den Raum. Er
hörte das, verdrehte langsam den Kopf zum Fenster hin und sagte dann leise: "Ja
richtig, Schokolade!" Ein breites Grinsen kam über sein Gesicht, schlagartig war
er wie ausgewechselt, sprang vom Stuhl auf, rieb sich die Hände und sagte:
"Dann wollen wir gleich mal loslegen!" Während er mit seinen fachlichen
Ausführungen begann, die perfekt wie immer waren, packte er so nebenbei, wie
sonst am Anfang der Stunde, seine Schokolade aus und zerteilte sie wie gehabt.
An diesem und auch in den nächsten Tagen war alles wieder wie früher und wir
glaubten, dass es ihm vielleicht zunächst nicht gut war, ein gesundheitlicher
Durchhänger sozusagen. Jedoch noch in der gleichen Woche, ich glaube
Donnerstag oder Freitag war es, wiederholte sich morgens der ungewöhnliche
Ablauf, allerdings schon etwas intensiver. Als wieder jemand das Wort
Schokolade in den Raum rief, schaute er den Kollegen fragend an ohne ihm
jedoch eine Frage zu stellen. Eine andere Kollegin wiederholte wenige Minuten
später den Ruf "Schokolade". "Was heißt hier Schokolade?", sagte er darauf,
fuhr dann aber gleich selbst weiter fort, "Schokolade? Meine Tasche ist
entzwei!", fügte er an. Die Tasche war aber wie immer und stand auf dem Pult.
Dann versuchte er, die Tasche zu öffnen, wusste aber sichtlich nicht mehr, wie
man die Lederschnallen bedient. Es war so eine ganz alte, stabile Leder-
Aktentasche die noch mit breiten Lederriemen am Deckel und darunter
befindlichen Schnallen zugemacht wurde. Den Vorgang solch eine Tasche zu
öffnen oder zu schließen lernt man einmal und vergisst so etwas nie mehr im
Leben, aber er hatte vergessen, wie man damit umgeht und bekam die Tasche
nicht mehr auf. Ich wollte ihm helfen, das lehnte er jedoch freundlich aber
bestimmend ab und er stellte die Tasche ungeöffnet unter das Pult. Ein etwas
unflätiger Kollege machte darüber gleich seine ulkigen Späße oder das, was er
dafür hielt, und rief einen Satz wie "Bäh, ich bin zu dumm eine Tasche zu
öffnen, bäh!" Das war nun wirklich nicht die feine englische Art und man
konnte es dem Professor ja nicht negativ ankreiden, da er sich dieses Schicksal
ja nicht selbst ausgesucht hatte. Der Professor wurde in just diesem Moment wie
von einem Wecker wach gerüttelt und begann seinen Fachvortrag, wie gehabt
meisterlich und ohne jeden Mangel. Auch danach war er wieder der Alte,
wunderte sich allerdings beim Rausgehen selbst, dass er seine Schokolade noch
nicht ausgepackt hatte. Er sagte noch: "Die verwahre ich dann bis morgen, denn
gleich gibt es Mittagessen, davor esse ich keine Schokolade, das harmoniert
nicht." In der darauf folgenden Woche lief eigentlich alles wieder ziemlich
normal, jedoch einige Wochen weiter wurde es dann um so schlimmer. Ich
glaube es war ein Dienstag. Wie gehabt kam er morgens ans Pult, öffnete seine
Tasche, legte die Tafel Zartbitterschokolade auf das Pult, zerteilte eine Rippe
davon wieder mit dem Skalpell in drei exakt gleich große Stücke, tastete diese
dann aber nicht mehr an. Er schaute wie völlig entgeistert in die Menge, so als
wolle er fragen, wo bin ich hier und was mache ich hier? Dann stütze er sich mit
einem Arm am Pult ab und betrachtete lange Zeit die Schokolade auf dem Pult,
wobei sein Blick zunehmend grimmiger wurde. Er schaute die Schokolade an,
wie man einen Feind ansieht, der einen gerade in der Öffentlichkeit durch den
Kakao zieht. Eine Kollegin rief wieder das Wort Schokolade in den Raum. Dann
ergriff er seine alte Aktentasche und stellte die aufs Pult, genau auf die sonst so
geliebten Schokoladenstücke, öffnete flugs einen Verschluss der Tasche, sie
hatte zwei, und nahm den Lederriemen des Verschlusses in den Mund,
knabberte regelrecht darauf herum. Das führte natürlich unter uns
Auszubildenden zu Heiterkeit und zu einem eigentlich dümmlichen Gelächter.
Diese Situation war jedoch so kurios, dass sich keiner das Lachen verkneifen
konnte. Das vernahm er gar nicht, er hatte innerlich abgeschaltet und ich hatte
den Eindruck, dass er nun diesen Lederriemen tatsächlich für ein Stück
Schokolade hielt. Das Gelächter gewann an Lautstärke, je mehr er sich vorne
abmühte vom Leder abzubeißen. Von außen hatte auch die Leiterin der
Ausbildungsstätte dieses Gelächter gehört und trat ein. Entsetzt schaute sie sich
einige Minuten das Schauspiel an und glaubte zuerst, der Professor mache das
absichtlich, um uns irgendwas damit in Form eines Sinnbildes oder einer Parabel
beizubringen. Nun wollte es der Zufall, dass der Professor genau in diesem
Moment wieder von seinem Gedächtnis beglückt wurde. Er brachte nur ein
langanhaltendes "Ehhh" hervor, stellte die Tasche wieder unters Pult, dabei
stürzten die drei vorgeschnittenen Schokoladenstücke zu Boden. Die Leiterin,
Frau Schumacher, schüttelte den Kopf und fragte ihn: "Was machen sie da?
Sind das ihre neuen Unterrichtsmethoden?" Er entgegnete überfreundlich nur:
"Liebste Frau Schumacher, ich weiß nicht was sie meinen, ich habe nur meine
Schokolade gegessen." Die Schumacher war zwar eine strenge Person, aber
hatte trotzdem viel Humor, sie zuckte mit den Schultern, lächelte und verließ
den Raum mit den Worten: "Na dann ist ja gut.", wobei sie noch leise selbst
etwas kicherte. Erst jetzt erblickte er seine Schokolade auf dem Boden, was er
sehr bedauerte. Vorsichtig hob er die Schokoladenstücke vom Boden auf,
schabte mit seinem Skalpell mögliche Schmutzanhaftungen ab und verzehrte
dann alle drei Stücke auf einmal, so dass ihm der Saft aufgeweichter Schokolade
seitlich schon aus dem Mundwinkel lief. Nun begann er so bekleckert mit dem
Unterrichtsstoff, wie gehabt perfekt. Im Labor, wo er jeden Mittwoch einige
Versuche und Übungen leitete, brachte er sich von zuhause stets die Frankfurter
Allgemeine Zeitung mit, die er las, während wir seine vorgegebenen Versuche
abarbeiteten. Er saß dann mit der Zeitung immer auf einem alten Hocker in der
Ecke des Labors und wartete beim Lesen darauf, dass jemand von uns mit den
Übungen nicht klar kam und dann bei ihm nachfragen musste. Eines Tages kam
er ohne die gewohnte Zeitung, hatte auch vergessen seinen Mantel und seinen
fast schon nostalgischen, grauen Fünfziger - Jahre - Hut in seinem Büro
abzulegen, sondern trug diese Sachen noch im Labor. Anstatt, wie sonst üblich,
zuerst seine Versuchsanordnung zu erläutern und uns vorzubereiten, stellte er
sich direkt hinter der vorderen Eingangstüre des Laborraumes hin und starrte
von dort aus einiger Distanz zum Fenster rüber. Selbst wenn von uns welche
dicht an ihm vorbei gingen, änderte er seinen Blick zum Fenster, nach draußen
nicht, es war, als würde er durch die Leute hindurchsehen. Als wir ihn
ansprachen, etwa: "Hallo Herr Professor Madey..." oder ähnlich, reagierte er
überhaupt nicht, so als habe er sein Gehör abgeschaltet. Erst als jemand mit
einer Fachfrage daher kam, wurde ihm die sofort und absolut korrekt von ihm
beantwortet. Aber selbst dabei schaute er den Kollegen nicht an, sondern weiter
wie starr zum Fenster rüber. Alles was seinen Beruf, sein Fachgebiet betraf,
registrierte er und sein Fachwissen war, wie üblich, auf perfekte Weise präsent,
jedoch alles andere war weg für ihn, weit weg. Nach etwa einer Viertelstunde
drehte er sich zu uns herum, schaute entgeistert und fragte: "Wieso bin ich hier,
wieso liege ich nicht zuhause im Bett, es ist doch gerade mal 2 Uhr bei der
Nacht." Es war natürlich nicht 2 Uhr nachts, sondern ungefähr 12 Uhr Mittags
und es war ja auch eindeutig hell draußen, wohin er ständig hingesehen hatte.
Wir erklärten ihm, dass er sich da wohl irre und holten ihn in die Realität
zurück, oder versuchten es wenigstens. Langsam und zäh setzte er sich an einen
Tisch, stützte seinen Kopf ab und jammerte: "Ach ja, ach jajaja, ich versteh das
alles nicht. Warum nur bin ich hier? Die Nacht ist doch noch nicht vorbei und
ich bin so grässlich müde. Wer von euch hat mich hierher gerufen? Und
warum?" An diesem Tag lief gar nichts mehr. Frau Schumacher, die Leiterin,
wurde verständigt und die rief seine Frau an, die ihn dann abholte. Wir
bedauerten fast alle den Zustand sehr und befürchteten zu diesem Zeitpunkt, den
Professor so schnell nicht wieder zu sehen. Doch weit gefehlt. Schon am
Montag der darauf folgenden Woche stand der Professor wieder pünktlich vor
uns, hinter dem Pult im Vortragsraum 4, portionierte vorbereitend seine
heißgeliebte Zartbitterschokolade, startete mit vollem Elan seinen Vortrag,
erwähnte die Ereignisse der vorangegangenen Woche mit keinem Wort. Er
wirkte wieder wie in seinen besten Zeiten. Wir waren froh, denn so gut wie er
konnte uns keiner die doch teils recht schwierige Fachkunde beibringen, man
lernte einfach hervorragend bei ihm, da konnten ihm die ganzen jüngeren
Kollegen bei weitem nicht das Wasser reichen, obwohl die fachlich ebenfalls
durchaus kompetent waren. Das Lernen war jetzt besonders wichtig, da staatlich
abgenommene Zwischenprüfungen anstanden. Man kann sagen, die Ausbildung
zum Gesamtberuf MTA ist in viele Einzellehrgänge unterteilt, die alle mit einer
staatlichen Prüfung enden und erst nach der erfolgreichen Absolvierung all
dieser staatlichen Einzelprüfungen wird man für das eigentliche
Abschlussexamen zugelassen. Die Erreichung der nächsten Einzelprüfung wäre
für uns ohne des Professors Wissensvermittlung sicherlich sehr in Frage gestellt
worden. So waren wir froh, dass er wieder in gekonnter Manier uns sein Wissen
eintrichterte. Das ging dann auch einige Wochen gut. Besagte nächste Prüfung
lag gerade einige Tage erfolgreich hinter uns. Nachdem Professor Madey am
Tag zuvor noch absolut unauffällig seinen gewohnten Stil fortführte, verließen
ihn die Kräfte seiner grauen Zellen am Folgetag plötzlich drastisch. Zuerst
begann noch alles ganz normal. Er zelebrierte wieder die Portionierung seiner
Zartbitterschokolade, begann den Unterricht bis zu einem gewissen Punkt, wo
ihm die Kreide an der Tafel abbrach. Es war komisch. Gerade so, als hätte die
abbrechende Kreide in seiner Hand die Sache erneut ausgelöst, aber vielleicht
war auch in ihm ein plötzlicher Umschwung im Hirn, der sich auf seinen Arm
übertrug, für das Brechen der Kreide verantwortlich, so genau kann man das
nicht sagen. Beim Einzeichnen einer Verbindung brach die Kreide, er hielt den
Rest des Kreidestücks weiter in der Hand, während das vordere Stück zu Boden
fiel, er drehte sich ganz zäh und langsam zu uns um, sagte kein Wort mehr,
starrte nur steif in Richtung der hinteren Wand, durch alles hindurch was
dazwischen kam. Einer Kollegin kam nun wieder der alte Trick mit dem Wort
Schokolade in den Sinn. So rief sie es laut aus. Die einzige Wirkung, die das
auslöste war, dass der Professor sich herumdrehte und sich wie ein kleiner
bestrafter Schulbub in eine Ecke des Raumes stellte, wortlos, gestenlos. Wir
sprachen ihn an, oder versuchten es wenigstens, alles ohne Erfolg. Nach einigen
Minuten ging er zu dem Stuhl hinter seinem Pult, setzte sich hin und schob zwei
dort noch liegende Schokoladenstücke hin und her, wie man auf einem
Brettspiel mit den Figuren schiebt. "Essen sie doch ihre Schokolade.", meinte
eine Kollegin. Ratlos blickte er zu uns herüber und erwiderte: "Ich habe keine
mehr." Dann verzerrte er sein Gesicht, weinte und brüllte dann lauthals in den
Raum: "Ich habe doch keine mehr!" Obwohl er zugleich weiter die beiden
Schokoladenstücke auf dem Pult hin und her schob. Die Kollegin stand dann
auf, ging vorne zu ihm ans Pult und zeigte auf die beiden Schokoladenstück und
sagte: "Da sind doch noch zwei. Essen sie die doch." Ungläubig wechselte er
seinen Blick dann immer von ihr auf die beiden Schokoladenstücke, dann
wieder zu ihr und in dieser Art mehrmals fortlaufend. Dann sagte er: "Nein Frau
Gundermann, dass kann man nicht essen, das ist doch meine Aktentasche und
das daneben ist die Tafelkreide." Den Namen der Kollegin hatte er korrekt noch
im Sinn, aber wie kann man Schokolade mit einer Aktentasche und mit Kreide
verwechseln? Weil uns das Procedere ja schon länger bekannt war, kam ich auf
die Idee, ihn nun etwas fachliches zu fragen. Eine aus unserer Sicht recht
komplizierte Frage nach dem Aufbau bestimmter Molekularsysteme. Wenige
Sekunden überdachte er die Frage und dann folgte eine sehr ausführliche
Antwort, wie sie nicht perfekter hätte sein können. Im gleichen Moment ertönte
der Pausengong, der in jedem Raum über Lautsprecher abgestrahlt wird. Da
griff sich der Professor mit beiden Händen an den Kopf, hielt sich die Ohren zu
und schrie: "Maria geh mit den Kindern schnell in den Keller, es ist schon
wieder Fliegeralarm!" In seinem Kopf tobten vermutlich alte Erinnerungen aus
dem zweiten Weltkrieg. In diesem Moment kam Frau Schumacher in der Raum
und bekam das Wort Fliegeralarm noch mit. Sie ging zu Professor Madey und
fragte ihn, was denn mit Fliegeralarm sei. Der Professor schaute sie entsetzt an
und fragte sie, ob sie durchs Brooksfleet geschwommen sei und so ihr Leben
retten konnte. Frau Schumacher meinte darauf nur: "Sie machen wohl Scherze?
Ich wollte nur die Listen von den Lehrgangsprüfungen vorbei bringen." Sie hielt
einige Listen in der Hand und reichte sie zum Professor rüber. Der aber starrte
die Schumacher nur an, als wäre ihm ein Geist begegnet und sagte: "Sie hier?
Ich dachte sie wären 1938 gestorben. Alle haben erzählt, sie wären 1938
gestorben und der Martin Belling aus der Fährhausstraße hat sogar behauptet,
bei ihrer Beerdigung persönlich dabei gewesen zu sein." Das war dann doch
zuviel für die Schumacher. "Ich glaube ihnen geht es nicht gut! Ich gestorben
und das schon 1938? Wir haben 1981, falls ihnen das entgangen ist. Und
überhaupt, was reden sie denn für ein wirres Zeug?", schimpfte die Schumacher.
Der Professor wandte seinen Blick zum Fenster und sagte leise: "Melden sie
sich bei Eduard Knoop am Versmannkai. Der besorgt ihnen schwarz einen Platz
in einem Schiff nach Stavanger. Aber bringen sie 300 Mark mit, sonst weis der
nichts. Gehen sie weg, solange sie es noch können, bevor die Nazischweine sie
entdecken." Die Schumacher bekam einen vor Ratlosigkeit hochroten Kopf, ihr
standen regelrecht die Haare zu Berge. Fast jammernd sagte sie: "Ach Herr
Madey, was mache ich nur mit ihnen?" Auf diese Frage wandte der Professor
seinen Blick zum Boden, hob seine Aktentasche hoch und reichte sie der Frau
Schumacher rüber mit den Worten: "Hier, essen sie ein Stück
Zartbitterschokolade, das beruhigt ungemein." Mehr ungewollt ging ein Kichern
durch den Raum angesichts der erneuten Verwechslung von Schokolade und
Aktentasche. Nach diesem Vorfall haben wir den Professor dann etwa einen
Monat lang nicht mehr gesehen. Doch dann kam er wieder, scheinbar wieder
geheilt. Er gab seinen Unterricht wieder völlig normal und auch im Labor
glänzte er. Wie wir schon erwarteten, konnte das nicht von langer Dauer sein
und wir wunderten uns darüber, dass er überhaupt noch mal in den
Ausbildungsbetrieb zurückkehrte. Seine Vergesslichkeit hatte aber inzwischen,
vielleicht auch durch die mittlerweile erfolgende Einnahme von Medikamenten,
andere Züge angenommen. Die Momente der Lethargie traten nicht mehr auf,
dafür verstärkten sich jedoch zuweilen die Vergesslichkeitssymptome. Fachlich
wusste er immer sofort alles, dort herrschten nach wie vor keinerlei Defizite,
aber die Vergesslichkeit wirkte sich dann doch auf die Durchführung von
Versuchen im Labor aus. So sagte er beispielsweise, dass er einen
Erlenmeyerkolben aus dem Geräteschranke benötige, für eine
Versuchsanordnung. Eine Kollegin holte den Kolben und reichte ihm diesen. Er
schaute sie ratlos an und fragte, was er denn mit diesem Buch anfangen solle?
Sie erklärte natürlich, dass er sie doch gebeten habe, ihm diesen
Erlenmeyerkolben zu holen. "Erlenmeyerkolben? Erlenmeyerkolben! Haben sie
neue Erlenmeyerkolben bestellt?", sagte er darauf. Oder was auch des öfteren
passierte, dass er mitten in der Versuchsarbeit plötzlich den Handhabungsfaden
verlor, nicht den fachlichen Faden, der war nie gefährdet, aber die reinen
mechanischen Handlungsabläufe. So hatte er ein Reagenzglas in der Hand und
wusste von einem Moment auf den nächsten nicht mehr, was das ist. Dann sagte
er: "Ich mache die Schranktür wieder zu." Legte das Reagenzglas beiseite, setzte
sich auf einen Hocker und las die Zeitung, wie gesagt, mitten in der
Versuchsarbeit. Als wir ihn dann erinnerten, was wir gerade machen wollten,
erläuterte er vorwegnehmend die fachlichen Ergebnisse, die bei diesem Versuch
herausgekommen wären, allerdings so, als habe der Versuch schon komplett
stattgefunden, dabei waren wir ja erst bei seinem Aufbau. Nachdem er das
Fachwissen zu dem Versuch rausgelassen hatte, schaltete er wieder völlig um.
"Besuchen sie Frau Paulsen, im Zirkusweg wohnt die!", sagte er zu mir,
während er mich sanft am Arm zu sich heranzog und diesen Satz so sagte, wie
wenn man jemandem einen Geheimtipp gibt. Darauf erwiderte ich: "Tut mir
leid, ich kenne keine Frau Paulsen und wüsste auch nicht, was ich dort soll."
Dann begann er langanhaltend herzhaft zu lachen und sagte: "Ja die Buben
Hannes, Jan und Karl haben die ganzen Schuhe von Frau Doktor Ringsdorf im
Kuhmühlenteich versenkt, wenn die das wüsste! Die schönen Schuhe." Er
ergriff eine neue Packung Reagenzgläser, die standen hier immer in
Zwanzigerpackungen auf Vorrat herum, zog jeweils ein Reagenzglas heraus und
schmiss es im hohen Bogen ins Labor, mal in die Ecke, mal in eine andere Ecke.
An dem Zerklirren der Reagenzgläser erfreute er sich, wie ein kleines Kind. Wir
beruhigten ihn und teilten ihm mit, dass er doch der Professor Madey sei und
uns hier Versuchsanordnungen für den nächsten Lehrgang zeige. Völlig erstaunt
schaute er uns an und meinte: "Was? Ich bin der Professor Madey? Ich der
Madey? Nein! Wirklich? Ich der Madey? Der große Professor Madey! Ihr meint
es zu gut mit mir, dass ihr mich zum Professor Madey macht. Das kann aber
doch gar nicht sein, der Professor Madey wohnt doch in Sundvollen, neinnein,
ich bin nicht Professor Madey, ich bin ein nichts. Ich bin ein armer Wicht, ein
Sauerkrautpilot, vielleicht wenn es hoch kommt auch ein Feldkurat, aber selbst
das nicht. Vielleicht bin ich auch nur der Toilettenaspirant aus der
Bedürfnisanstalt an der Großen Elbstraße." Dazu muss man wissen, Sundvollen
ist wohl ein kleiner Ort in Norwegen, unweit von Oslo, in dem der Professor vor
vielen Jahren zu seiner Zeit dort gewohnt hatte. Dann ergriff er eine fahrbare
Versuchsstation, das war so ein Wägelchen mit mehreren Ebenen in denen sich
technische Geräte und Haltebügel zum Befestigen von Kolben, Reagenzgläsern
und weiteren Versuchsanordnungen befanden, er raste sich darauf abstützend
mehrmals quer durch den Raum, rammte dabei etliche Möbel, die dann teils
sogar umkippten, bis er schließlich selbst mitsamt der fahrbaren Versuchsstation
umstürzte und sich dabei sogar noch einige Verätzungen an ausfließender Säure
zuzog. So lag er da, über den Resten der Versuchsstation, jammerte ein wenig
und heischte nach Luft. Wir richteten ihn auf und versuchten ihn wieder zu
beruhigen, was aber nicht leicht fiel, denn der Schmerz der Säure stachelte ihn
wohl noch weiter an. Er trat sogar nach einigen Kollegen und beschimpfte
plötzlich lauthals Hitler und das ganze Dreckspack in dessen Anhang. Nun war
diese Ära schon damals rund 40 Jahre vorbei, schließlich schrieben wir 1981.
Ich stellte dann wieder eine fachliche Frage, doch diesmal registrierte er die gar
nicht. Erschöpft setzte er sich auf einen Stuhl und begann von früheren Zeiten zu
erzählen, woraus man aber nicht wirklich etwas ableiten konnte, weil ihm zu
viele Gedanken quer durch gingen. Von der Lärmerei zuvor hatte die
Schumacher mitbekommen und kam nun herein. Bestützt sah sie die Scherben
und die umgestürzten Einrichtungsgegenstände. Sie schlug die Hände über dem
Kopf zusammen und benachrichtigte sofort die Frau des Professors. Der
Professor wurde daraufhin von seiner Frau und einem Herrn abgeholt und dies
war dann auch das endgültig letzte Mal, wo wir den Professor gesehen hatten.
Etwa vier Jahre später, als ich schon längere Zeit in meinem Beruf als fertig
ausgebildete MTA der Fachrichtung Labor arbeitete, was ich trotz dieser
Vorfälle ganz entscheidend ihm zu verdanken hatte, las ich per Zufall seine
Todesanzeige in einer Tageszeitung. Ich wäre gerne zu seiner Beerdigung
gegangen, aber leider das ging nicht, weil er sich in Sundvollen hat beerdigen
lassen.
Ich möchte die Ereignisse von damals weitgehend kommentarlos wirken lassen
und vermeide es deshalb, hier meine eigenen Ansichten darüber hier anzufügen.
Der Mensch sieht nicht, was er wird.

 

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